// KRITIK




# LEONCE UND LENA / Theater Bonn / 2013




File:General-Anzeiger (Bonn) logo.svg



10.11.2013

Die Stille nach dem Kuß

Mirja Biel und Joerg Zboralski inszenieren Büchners "Leonce und Lena" voller Brechungen

Von Gunild Lohmann

BONN. Knall auf Fall beginnt die Premiere von "Leonce und Lena" in den Kammerspielen: Pardauz, da liegt das große, mit Glühbirnen gespickte "P" auf der Seite, das für den Palast König Peters von Popo steht, wahlweise auch für Provinz, Posse oder Prinz. Dieser heißt Leonce , soll Lena vom benachbarten Zwergstaat Pipi heiraten und dann König werden.

Zerplatzte Blütenträume: Benjamin Berger (Leonce) und Julia Keiling (Rosetta) in der Bonner Inszenierung von 'Leonce und Lena'. Foto: Thilo Beu

Das will er zuerst nicht, am Ende aber doch und tut es auch. Die Handlung des Lustspiels, das Georg Büchner 1836 als absurd wortwitzige Politsatire verfasste, ist unkompliziert und schnell erzählt. Umso reizvoller ist "Leonce und Lena" als Spielwiese für Regisseure, die das Stück gern in ihre Einzelteile zerlegen und in anderer Reihenfolge wieder zusammensetzen.

In der Neuauflage ihrer Inszenierung, die 2012 am Theater Bremen debütierte, basteln sich auch Mirja Biel und Joerg Zboralski einen Büchner voller Brechungen, die aber Verständnis und Substanz der Vorlage wenig oder gar nicht beschneiden. Mit Knarf Rellöm, geborener Frank Möller und ein vielseitig begabter Mensch, setzen sie einen Erzähler ein, der das Geschehen erklärt, kommentiert und vor allem musikalisch begleitet.

Dazu gibt es hübsche Video-Effekte, ein schlüssig rationalisiertes Personeninventar sowie eine große Menge von Anspielungen und Zitaten aus Literatur, Politik, Philosophie und Popkultur. Prinzessin Lena singt auf der Flucht vor der arrangierten Hochzeit Chris Isaaks "No, I don't wanna fall in love with you", bevor sie genau das tut; Rosetta, hier zugleich Lenas Gouvernante, mutiert bei Bedarf zur MG-bewehrten RAF-Terroristin, und der an Langeweile, Leere und Leben verzweifelnde Leonce lanciert seine Aphorismen wie ein junger Oscar Wilde, mit weniger Biss zwar, aber genauso elegant gekleidet.

Doch auch wenn die beiden Staatsminister Philippe und Pierre (Thomas Hatzmann und Samuel Braun) in Plisseeröckchen und mit Kinderfahrrädern über die Bühne flitzen und Rellöm das Lebenskunstprinzip von Taugenichts Valerio mit dem Song "Lass uns Drogen nehmen und rumfahrn" erläutert, auch wenn nicht jede Slapstick-Pointe zündet - es ist alles da, worauf es ankommt: die Absurdität biedermeierlicher Duodezstaaterei, die zerplatzten Blütenträume der Romantik, Ennui, Lebensüberdruss und die große Frage nach dem Wozu der verblendeten, verblödeten und vollbeschäftigten Leistungsgesellschaft.

Nicht zu vergessen Büchners Zeitkritik, wie sie sich am schärfsten vor den geplanten Hochzeitsfeierlichkeiten manifestiert. "Sämmtliche Unterthanen" haben sich "mit zufriedenen Gesichtern" einzufinden: "Erkennt, was man für euch thut, man hat euch grade so gestellt, dass der Wind von der Küche über euch geht und ihr auch einmal in eurem Leben einen Braten riecht."

Die stärksten Momente hat die Inszenierung da, wo es inmitten der fröhlichen Betriebsam- und Beliebigkeit plötzlich still und ernst wird, etwa wenn Leonce nach dem ersten Kuss nicht mehr weiterleben will: "Mein ganzes Sein ist in dem Augenblick. Mehr ist unmöglich."

Benjamin Bergers Prinz, zu Beginn ein verwöhnter, pubertär aufbegehrender Jammerlappen, wird doch schließlich ein bisschen erwachsen, Lena sei Dank, die Johanna Falckner mit einer naiven Melancholie spielt, hinter der sich ein tiefes Erkennen verbirgt. Glenn Goltz ist ein wunderbar debiler König Peter, Julia Keilings Rosetta macht als Vamp eine ebenso gute Figur wie als Terroristin, und Sören Wunderlich säuft und scherzt sich in der Rolle des Valerio mit virtuoser Lässigkeit zum Publikumsliebling. So können die Zuschauer am Ende überzeugt in Knarf Rellöms Schlusslied einstimmen: Juppidu, Juppidu, Juppidubidu."


 http://www.demografie-blog.de/wp-content/uploads/2012/01/deutschlandfunk_logo_schriftzug.png

11.11.2013

Müßiggang und Sklavenarbeit

"Leonce und Lena" und "Metropolis" am Schauspiel Bonn

Von Christiane Enkeler

In der Bühnenfassung von dem Film "Metropolis" am Bonner Schauspiel geht es um den Menschen, Maschinen und die Arbeit. Für die Inszenierung "Leonce und Lena" in Bonn hat Knarf Rellöm Büchner-Passagen dem Werk und aus dem "Hessischen Landboten" vertont - wie eine Anti-Arbeits-Revue.
(...)

Andererseits zeigt die "Leonce-und-Lena"-Inszenierung am Vorabend mit ihrem Schwerpunkt auf dem Thema "Arbeit", was das für ein Wochenende hätte werden können! Knarf Rellöm führt als Musikant ein und von Szene zu Szene weiter. Er vertont Büchner-Passagen aus Leonce und Lena, aber auch aus dem Hessischen Landboten. Mit "Wicked Game" und von den Einstürzenden Neubauten "Stella Maris" kommen weitere Songs dazu, und überhaupt gestaltet das neue Hausregie-Duo Biel/Zboralski das Büchner-Werk wie eine Anti-Arbeits-Revue mit einem riesigen, umgekippten "P" als Bühne auf der Bühne, dem Anfangsbuchstaben des Königs "Peter" vom Reiche "Popo", aus lauter Glühbirnen, die für unterschiedliche Stimmungen sorgen können. Jeder Monolog eine Nummer, ein großer Auftritt. Dabei kitzelt das Team hintergründig und lustvoll viel Büchner-Witz aus dem Text und findet neuen dazu: Sören Wunderlich hält als Valerio eine betrunkene und dennoch darstellerisch geschickt ausbalancierte Rede mit Anteilen aus Manifesten der Hedonistischen Internationalen und der Glücklichen Arbeitslosen – ein weiser Narr. Die Rollen sind zusammengestrichen, der Text klug verteilt. Nur passagenweise wirken die Schauspieler-Improvisationen zu dick aufgetragen, und die beiden Faktoten "Philippe" und "Pierre" bekommen ein bisschen zu viel Raum.

"Das Leben der Bauern ist ein langer Werktag, das Leben der Reichen ist ein langer Sonntag ..."

Wie viel Potenzial doch in manchem Mitglied des neuen, sehr jungen Bonner Ensembles steckt, das mit erkennbarer Lust und Frische seine Aufgabe gestartet hat! Vielleicht müssen sich Spiel und Programmgestaltung einfach erst einpendeln.






















---










# DIE EHE DER MARIA BRAUN / Theater Lübeck / 2013








Liebe, Leiden, Wirtschaftswunder
Wieder ein Filmstoff am Theater Lübeck — und ein großer Wurf: „Die Ehe der Maria Braun“ nach Rainer Werner Fassbinder.

09.09.2013 20:10 Uhr
Lübeck. „Gefühle? Gefühle hat man zwischen den Beinen“, steht in großen Lettern an der Wand. Im Nachkriegsdeutschland ist man mit anderem beschäftigt: Überleben.
Wiederaufbau. Wohlstand schaffen. Maria Braun will beides.1943 heiratet sie im Bombenhagel, aber sie kann nur einen halben Tag und eine ganze Nacht mit ihrem Mann Hermann zusammensein, weil der wieder zurück an die Front muss. In „Die Ehe der Maria Braun“ wird nicht nur eine Liebesgeschichte erzählt, sondern auch, wie wir wurden, was wir sind. Joerg Zboralski und Mirja Biel haben das Melodram für die Bühne inszeniert. Entstanden ist eine kurzweilige Schauspiel- Revue, die sehr viel Witz hat, aber auch die notwendige Ernsthaftigkeit. Ein großer Wurf.
Auf der Bühne ist eine mehrteilige halbrunde, mit Leuchtstoffröhren versehene Wand aufgebaut. Vor diesem Hintergrund werden elf Jahre im Leben der Maria Braun erzählt: Beruflich und finanziell geht es bei ihr steil bergauf, ihr Liebesleben aber bleibt unerfüllt. Als ihr Mann (Henning Sembritzki) nicht aus dem Krieg heimkehrt, geht sie eine Liebschaft mit einem GI (Will Workman) ein. Später wird sie die Geliebte eines Industriellen (Thomas Schreyer), kommt zu beruflichem Aufstieg und zu Wohlstand. Das Zeitgeschehen wird auf einer Videoleinwand präsentiert: Hitler, der Krieg, das Kriegsende. Man hört das Klappern einer Schreibmaschine, die Buchstabe für Buchstabe Überschriften und Jahreszahlen auf die Wand schreibt. Ein Trümmerfrauenchor (Henning Sembritzki, Thomas Schreyer, Will Workman) sinniert darüber, warum es in der Liebe immer der eine sein müsse. „Wenn wir keine Kartoffeln haben, essen wir Steckrüben, wenn wir keine Steckrüben haben,
essen wir Mehlsuppe.“ Sina Kießling, die am Theater Lübeck schon als „Lulu“ und als „Minna von Barnhelm“ glänzte, ist auch in der Rolle der Maria Braun umwerfend. Sie ist eine, die für die Vereinbarkeit von Herz und Verstand steht. Auf sich allein gestellt erwirbt sie auf dem Schwarzmarkt ein enges, schwarzes, tief ausgeschnitttenes Kleid, um ihren Lebensunterhalt als Bardame zu verdienen. Sie ist eine Frau, die keinem Klischee gehorcht: schön, erotisch, tatkräftig, mutig, pragmatisch, klug, stolz, gefühlvoll und berechnend. Ihr Mann ertappt sie mit Bill. Dass es möglich ist, zwei Männern zugetan zu sein, beschreibt sie so: „Bill habe ich liebgehabt, und ich liebe meinen Mann.“ Das schwere Leben der Maria Braun vollzieht sich in einer Zeit des Aufbruchs und der neuen Moden. Das wird in dem Stück lustvoll vorgeführt. Man feiert fröhlich bei Flaschenbier und Kartoffelsalat. Man ist wieder wer, kleidet sich schick und elegant (Kostüme: Petra Winterer). Das ist schön anzusehen. Und überhaupt macht das Stück Spaß. Offenbar auch den Schauspielern, die mit Lust und Liebe bei der Sache sind, auch wenn viel Arbeit zu leisten ist. Immerhin haben acht Darsteller 26 Rollen auszufüllen. Aus welchem Grund Astrid Färber in den letzten Minuten die Rolle der Maria Braun übernimmt, wird nicht klar. Sie lässt diese wesentlich älter, härter, böser erscheinen. Das mag die Absicht gewesen sein. Richard von der Schulenburg, für die Musik zuständig, lässt Mutters Geburtstagsgesellschaft zu „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ singen und tanzen. Stevie Wonders „Part-time lover“ wird unbekümmert wörtlich ins Deutsche übersetzt (Teilzeitgeliebter), auch wenn‘s gehörig zum Rhythmus der Musik holpert. Von der Schulenburg, mit dunklem Hut und Sonnenbrille, sitzt am Bühnenrand am Synthesizer. Manchmal singt er auch. Das Stück endet dramatisch. „Es ist eine schlechte Zeit für Gefühle“, hatte Maria Braun schon lange geahnt. Der Premierenapplaus war ausdauernd und stürmisch.






  











---












# DER GROSSE GATSBY / Theater Erlangen / 2013









Schöner Schein und tiefer Abgrund

Glitzernde Dekadenz: „Der große Gatsby“ als große Show im Erlanger Markgrafentheater 

15.04.2013


Erlangen  - Als ein zeitloses Spektakel über die Abgründe des Kapitalismus und der Individuen hat das Regieduo „Biel/Zboralski“ den Klassiker „Der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald im Theater Erlangen inszeniert.

Da stehen sie nun, tanzen swingend und singend in den Untergang: Dagobert Duck, die Freiheitsstatue und Uncle Sam. Ein Bild, das schrill und provokant die Chiffren auf eine enthemmte Gesellschaft vereint. Eine Gesellschaft, in der der Schein und der Geldschein den Ton angeben. In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ebenso wie in der Gegenwart.

Ausgangspunkt für die Inszenierung ist die kluge Romanadaption von Rebekka Kricheldorf, die aus der Vorlage bereits ein stimmiges Extrakt gefiltert hat, das nun am Erlanger Markgrafentheater zu einem bitterbösen Blick auf menschliche Schwächen verwandelt wird.

Daniel Seniuk spielt mit viel Gefühl für große und kleine Gesten den Ich-Erzähler, der in eine unglaubliche Geschichte einführt. Eine Geschichte über Geld, Macht, Liebe und Intrigen. Ein Stoff, der gerade wieder Hollywood fasziniert (im Mai kommt eine Baz-Luhrmann-Verfilmung mit Leonardo DiCaprio in die deutschen Kinos). Der Nick Carraway in der Produktion am Theater Erlangen ist ein staunender, teilweise fassungsloser Beobachter einer Welt der großen Illusionen, die ihn genauso fasziniert und verwirrt wie seine Affäre mit der Profi-Golfspielerin Jordan Baker (dynamisch: Violetta Zupancic).

Vor einer gewaltigen Stars-and-Stripes-Flagge auf der riesigen Glühbirnenwand versucht der durch zweifelhafte Geschäfte zu Reichtum gekommene Jay Gatsby (überzeugend: Thomas Prazak) durch Prunk seine alte Liebe Daisy (Gitte Reppin) zurückzuerobern. Ein schwieriges Unterfangen, entspricht dieses zarte Wesen eigentlich doch gar nicht mehr den Traumbildern, die er sich für seine Jugendliebe über die Jahre ausgemalt hat. Auf die persönliche Katastrophe steuert Gatsby zu, als Daisys untreuer Ehemann Tom (herrlich schleimig: Matthias Zeeb) eine hinterhältige Intrige spinnt.

Das große Kunststück dieser Inszenierung ist, wie geschickt es Mirja Biel und Joerg Zboralski gelingt, persönliche und gesellschaftliche Abgründe zu kombinieren. Auf der Drehbühne wechselt sich die visuell perfekt umgesetzte, glitzernde Dekadenz mit düsteren Momentaufnahmen ab. Die vielen Musikeinlagen wirken nicht aufgesetzt, sondern vertiefen Emotionen. Selbst die Jazz-Version von Madonnas Hit „Material Girl“ aus dem Munde von Toms Geliebter Myrtle (Janina Zschernig) wirkt da nicht aufgesetzt. Das Regie-Duo gibt einen packenden Erzählrhythmus vor. Ironie, Sarkasmus, Witz und Ernsthaftigkeit ergeben zwei für ein kleines Stadttheater ungewöhnliche Stunden Bühnenkunst.



# ANTON REISER / Theater Erlangen / 2012



                                                                                                                               11.07.2012



Wenn schon, dann selbstbestimmt scheitern

Zweifacher Personenschaden in "Angst" und "Anton Reiser": Versuche über gesellschaftliche Zurichtung als Saisonabschluß am Theater Erlangen
" (...) Ein kühler Beobachter sollte auch durch "Anton Reiser" führen, doch in der Bearbeitung von Mirja Biel und Joerg Zboralski steht dessen Deutungsmacht bald zur Diskussion. Als streberhafter Erzähler, der mit geschürzten Lippen aus dem Reclam-Heftchen rezitiert, wird Robert Naumann von der Romanfigur persönlich unterbrochen und angefeindet. Als Schauspieler wiederum muss er sich mit dem störrischen Kollegen Christian Wincierz herumschlagen. So streiten sich die beiden durch den komplexen Roman, durch die bekemmende Kindheit und fremdgesteuerte Jugend eines Außenseiters, der in die Welt der Sagen flieht, durch grausame Kinderspiele und religiöse Entrückung bis hin zu Reisers Versuchen als Schauspieler.
Sie sind abwechselnd oder gemeinsam Reiser, aggressiv, schwärmerisch, verzweifelt – ausgestellt in einem verspiegelten Bühnenraum, der das Gezeigte in Zerrrbildern zurückwirft. Sie kommentieren und persiflieren Karl Philipp Moritz psychologische Studie mit autobiografischen Zügen, jedoch ohne die Figur zu verraten. Aus der oft herablssend klingenden Schilderung des Autors macht das Regie-Duo Biel / Zboralski eine metafiktionale Parforceübung. Ausbrechen kann Reiser nicht aus der Romanhandlung, aber auf der Bühne schafft er, was Zweigs Irene nicht gelingt: Er holt sich das Recht zurück, selbstbestimmt zu scheitern. "

von Cornelia Fiedler



                                                                                  07.07.2012


Anton Reiser – In Erlangen sucht Karl Philipp Moritz' Held nach dem Sinn im Show Business-Leben

Das frühe Hecheln nach Erfolgalt

Erlangen, 7. Juli 2012. Die Behauptung, Gegenwartstheater aus gut abgelagerter, gerne auch unter Staubschichten konservierter Literatur recyceln zu können, ist offenbar zum unabwendbaren Spielplan-Schicksal geworden. Ob renommierte Groß-Bühnen oder ambitionierte Häuser in der Provinz, zumindest in der Unverzichtbarkeit von Basismaterial aus den Tiefen der Bibliothek sind sie sich einig.

Das Theater Erlangen, das einerseits das kleinste Stadttheater Bayerns ist und andererseits mit Universität und Siemens-Standort ein zumindest theoretisch bildungsbeflissenes Publikum mit Anspruch im Visier hat, ist auf der Suche nach dem passenden Profil auch in dieser Ecke, die man allmählich vielleicht doch zur Abseitsfalle erklären sollte, gelandet. Kaum war die (verhaltene) Diskussion um die Dramatisierung von Stefan Zweigs Novelle "Angst" im Markgrafentheater verstummt, drängte mit "Anton Reiser" nach dem vierteiligen Roman von Karl Philipp Moritz (1756-1793) in der "Garage", dem kleinen Haus, die nächste Drucksache auf die Szene.

Mit freier Hand und Pratze 

Intendantin Katja Ott hatte bei der Berufung der Produktions-Teams auf Extreme gesetzt. Während für "Angst" mit dem ehemaligen Intendanten von Braunschweig und Krefeld / Mönchengladbach ein Schlachtross des Kultur-Fließbands antrat, durfte es bei der Bearbeitung von "Anton Reiser", dem scheiternden Aufsteiger auf der Suche nach Lebensentwürfen in der Kulisse, ein Experiment mit Ansage sein. Das Team Mirja Biel und Joerg Zboralski, sie von Stemann und Kriegenburg trainiert und er ein Meisterschüler von Gerhard Richter, hatten freie Hand. Damit griffen sie herzhaft zu, denn um eine Digest-Fassung des Poeten, den Goethe als seinen "jüngeren Bruder, nur vom Schicksal verwahrlost" adelte, ging es natürlich nicht. Eher um die Frage, wo dieses selbstvernichtende Hecheln nach Erfolg als Lebensinhalt, das Moritz seinem literarischen Anton Reiser wie eine Charakter-Transplantation verpasste, heute sein Echo finden mag. Im Programmzettel wird ein wenig Klaus Kinski zitiert, auf der Bühne AC/DC geplärrt. Soll es das gewesen sein?

Der will doch nur spielen

Der erste Blick des Zuschauers fällt auf einen verspiegelten Raum, in dem ein Boy im Silber-Höschen dem ersten Satz rhythmisch entgegen bibbert. Friert er oder hat er Disco im Blut, lebt er oder wird er grade geboren? Aus ist der Traum als eine Tür im Hintergrund das geschlossene Bild zerstört und ganz in weiß ein Arzt erscheint. War Reiser etwa ein Opfer der Psychiatrie? Falsche Fährte, schon wieder. Offenbar ist ein Doppel-Ego unterwegs im Dienst der autobiografischen Spurensicherung. Einer wedelt mit dem Reclam-Heft und zitiert schöne Stellen, der Andere gackert äffend hinein in die verkappte Dichterlesung und will nur das, was Moritz / Reiser letztlich vergeblich als das höchste aller Ziele anstrebte: Spielen! Klar, um spielend den "Sinn des Lebens" einzufangen, der noch nicht von den Monty Pythons definiert war.

Die Erlanger Fassung, wie auch Regie und Ausstattung von Mirja Biel und Joerg Zboralski im Duo verantwortet, flutet mittels Videobeamer und Christoph Panzers Clip-Sortiment gelegentlich die Bühne mit Original-Texten, lässt sie bei der inszenierten Ich-Suche aber weitgehend beiseite. Zwar wird die Biografie der scheiternden Begabung vom zerrütteten Elternhaus bis zur verpatzten "Wonne der Tränen" im angehimmelten Kunstgewerbe erstaunlich chronologisch aus dem gelben Heftchen gezupft, doch die prägenden Halte-Stationen verraten alles. Wir sehen den jungen Dramen-Junkie Anton Reiser, wie er mit Pappfiguren den Trojanischen Krieg nachspielt (Kalauer-Projektion: "Die spinnen, die Griechen"), mangels eigener Begabung den "Faust" als Gründgens-Karaoke direkt vom eiernden Plattenteller gibt und zur seitlich im Zuschauerraum aufgebauten Garderobe den Masken und Perücken von Shakespeare entgegen eilt. Der Roman-Text bleibt derweil links liegen.

Lear und Othello fechten's aus

Da bekommt die etwas ziellose Komödianterei einen schönen Schub ins Absurde. Beide Ego-Hälften (Robert Naumann und Christian Wincierz immer artistisch auf der Kippe zwischen Entertainment-Travestie und fixiertem Impro-Theater) konkurrieren unerwartet in Williams Universum. Während Nr. 1 schon "Hamlet" deklamiert, schminkt Nr. 2 noch den Mohr von Venedig hin, was bei unaufhaltsamer Weiterentwicklung zu einem so noch nicht gesehenen Degen-Duell zwischen Othello und Lear führt. Saukomisch, und Tonnen von Schauspielführern müssen umgeschrieben werden.

80 Minuten für vier Romanteile samt Show-Einlagen, das ist dann doch knapp kalkuliert. Statt eines Mahnmals der Selbstzerstörung haben Biel und Zboralski einen Video-Comic geschaffen, an dem man Spaß haben, aber kaum Erkenntnis gewinnen kann. Zum Schluss wird die Popkultur noch mal kräftig geschüttelt und gerührt. Ego Nr. 1 schmettert mit Marilyns Perücke ausgiebig "My Way", Ego Nr. 2 hat nun auch sein Glitzerhöschen und kommt zum Pistolen-Duell – aber dann bemerken wohl beide rechtzeitig, dass sie schon einen Knall haben, küssen sich sehr ausgiebig und der Schuss geht ins Publikum. Blackout. Ja, so wird auch eine Deutung draus. Irgendeine. Es gab übrigens lange Beifall.

von Dieter Stoll




# LEONCE UND LENA / Theater Bremen / 2011
 



                                           30.November 2011



Punk im Lande Popo

THEATER Mirja Biel gelingt in Bremen eine berückende "Leonce und Lena"-Inszenierung - dank Joerg Zboralskis genialer Bühnen-Brache, in der sich das Meta-Lustspiel entfalten kann

Georg Büchner war der Gründer der Anarchistischen Pogo Partei. Und "Leonce und Lena" ist ihr Manifest. Das ist die Deutung, die Mirja Biel in ihrer Bremer Inszenierung nahelegt, und streng philologisch stimmt das natürlich nicht.

Büchner hat niemals eine Partei gegründet. Das war damals verboten. Als er 1836 "Leonce und Lena" schrieb, hatte er mit der Revolution abgeschlossen, alles zwecklos, die Politik hinter sich, lächerlich, Materialismus und Idealismus in seiner Dissertation über Schädelnerven ins Absurde überführt. Und natürlich ist das Stück kein Manifest - sondern ein Lustspiel: Leonce, Prinz des Landes Popo, läuft vor seiner Braut Lena davon. Die ist Prinzessin von Pipi, leidet auch an Bindungsangst und begegnet Leonce auf ihrer Flucht vor ihm. Dann heiraten sie.

Es ist zugleich eine besonders bösartige Komödie, weil sie sich fast jedem Regie-Zugriff verweigert. Ihr Text besteht aus nur für sehr informierte ZuschauerInnen wahrnehmbarer Philosophie-Kritik gepaart mit derbsten Zoten und erzplatten Kalauern, die er, ein Tritt ins Gesicht des Lachers, mit Recht für doof erklärt. Wer diesen Text modernisieren will, ist ein Barbar. Und wer ihm mit der gebotenen Ehrfurcht begegnet, macht sich lächerlich: Das traurigste Beispiel dafür war der bedeutende Büchner-Forscher Thomas Mayer. Der versuchte 2003, die weitere Herausgabe der von ihm konzipierten historisch-kritischen Ausgabe gerichtlich zu stoppen - weil "Seite 14, Randzeile 23 die beiden Spitzklammern nicht fett, sondern mager gedruckt" waren, wie's in der Klageschrift hieß.

Jenseits von Ernst und Unernst liegt das Spiel, und das braucht Raum. Und Räume zu schaffen, ist eine Spezialität von Mirja Biel, einer echten Entdeckung der Bremer Interims-Team-Intendanz, die hier binnen vier Jahren ihre sehr eigenständige Regie-Handschrift entwickelt hat.

Für "Leonce und Lena" stellt sie erst mal Abstand her zur Vorlage. Deren bewusst banalen Wortwitz verlängernd lässt sie Knarf Rellöm, also Frank Möller, als psalmodierenden Conférencier durch den Abend klampfen. Sie wirft die Struktur des Stücks über den Haufen, verändert die Szenenfolge, verdichtet das Personentableau und verlagert so das Gewicht der Figuren - sicher nicht nur, weil mit Johanna Geißler keine berauschende Lena da war.

Glenn Goltz hat als vorbildlich wirrer König Peter den ersten Auftritt, umwieselt von Timo Lampka und Thomas Hatzmann als zwei in angestrengter Servilitäts-Konkurrenz befindlichen Staatsministern. Und Valerio, eher Proto-Punk als Diener schon bei Büchner, ist der Chef: Sein kühnes Bekenntnis zur Faulheit wird zur Schlüsselszene, sein Ohrwurm, den er bekennt "so fort bis zum Ende meines Lebens" singen zu können, steckt das Ensemble an, wird Leitmotiv der Aufführung. Biel lässt ihn nicht wie Büchner von einer "Fleig' an d'r Wand" singen, sondern, fast schon tiefgründig: "lass uns Drogen nehm' und fortfahr'n".


Alexander Swoboda spielt das genussvoll aus. Während Jan Byl, der als Leonce im ollen Wohnwagen am rechten Bühnenrand hockt und sich im Inneren dieses fluchtmobilen Prinzengemachs zugleich genial per Beamer an dessen Außenhülle projiziert, sein Selbstmitleid klagt, gleitet Swoboda per Longboard über die Bühne: Links steht ja die Palette Dosenbier. Zisch! Ah.

Ja, auf der Bühne ist Platz genug zum skaten, sie lädt dazu ein - und sie spielt mit. Das liegt an Joerg Zboralski, mit dem Biel stets zusammenarbeitet. Verständlich. Denn Zboralski, ein Schüler Gerhard Richters, kann Brachen gestalten. Drei, vier Requisiten, ein, zwei wenn auch wuchtige Effekte - und schon ist in schrammeliger Lakonie die ganze Geschichte erzählt: Wie ein dramatischer Unfall kracht, gleich zu Beginn des Abends, ein acht Meter großes Konstrukt auf die Bühne.

Die Notbeleuchtung geht an. Da liegt, mit Kappenlampen wie ein Kirmes-Karussel verziert, ein gigantisches P. Auf vor und in dieser Buchstaben-Ruine wird gespielt, vor dem durchaus philologisch korrekten Hintergrund, dass dieses Reich Popo wohl nie ganz ernst zu nehmen war. Dass es aber doch bessere Tage erlebt hat. Und dass es sich jetzt, trotz geregelter Thronfolge, in einem Zustand nach der Politik - in endgültiger Auflösung befindet. Völlig unverfängliche Botschaften, zumal in einem Land wie Bremen.


Benno Schirrmeister




# ULRIKE MARIA STUART / Theater Bremen / 2011




                                                        21.03.2011



Terror als Unterhaltung

Ulrike Meinhof ist Maria Stuart, Gudrun Ensslin ist Elisabeth I. Die RAF – ein Drama innig verfeindeter Königinnen. Das ist die Geschichte, wie Elfriede Jelinek sie 2005 in "Ulrike Maria Stuart" interpretierte. Am Samstag feierte das Stück in der Inszenierung von Mirja Biel und Joerg Zboralski im Brauhauskeller eine gelungene Premiere.

An Schillers Dramen interessiere sie am meisten die "Sprech-Wut der Personen", hat Jelinek einmal geschrieben. Und so ist es auch die ungebrochene Wucht der Sprache, die dieses Stück groß macht. Nebenbei wird einmal mehr die RAF-Historie erzählt, liebevoll durch Handpuppen ironisiert. Gleichwohl ist Jelinek weit davon entfernt, dem Mythos zu erliegen. Baader, Meinhof, Ennslin, sie erscheinen als selbstsüchtige, bisweilen wahnhafte, doch ziellose Pop-Figuren, die sich für bessere  Menschen und die anderen für Schweine halten. Zugleich ist "Ulrike Maria Stuart" ein Stück über das Scheitern hehrer Träume, getragen von Hoffnungslosigkeit, ein pessimistischer Kommentar über die Möglichkeit einer radikalen Veränderbarkeit der Welt. (...)

Mit Ulrike Maria Stuart gelingt Biel und Zboralski ein nachdenklicher und trotzdem wunderbar unterhaltsamer Theaterabend: Eine überzeugende Inszenierung.

Jan Zier